Rebellen ziehen sich zurück
Syrien: Droht Eskalation mit Türkei?
- Veröffentlicht: 20.08.2019
- 18:01 Uhr
- dpa
In Syrien haben die Anhänger von Präsident Baschar al-Assad große Geländegewinne verbuchen können. Rebellengruppen wurden zum Rückzug gezwungen. Aber an der Front droht die Konfrontation mit einer anderen Regionalmacht.
Im Kampf um die strategisch wichtige Rebellenhochburg Chan Schaichun in Syrien hat die Armee von Präsident Baschar al-Assad einen wichtigen Sieg errungen. Bewaffnete Rebellen zogen sich nach Angaben von Beobachtern am Dienstag aus der Region um die heftig umkämpfte Stadt zurück. Die Türkei, die in der Gegend einen Beobachtungsposten unterhält, teilte jedoch mit, sich nicht zurückziehen zu wollen. In der Nacht war es Bodentruppen der syrischen Armee gelungen, bis nach Chan Schaichun vorzudringen. Wegen der neuen Eskalation sind Tausende Menschen auf der Flucht.
Chan Schaichun wird seit fünf Jahren von Rebellen gehalten. Vor zwei Jahren starben hier bei einem Giftgasangriff mit Sarin Dutzende Menschen. Die Stadt liegt im Süden der Provinz Idlib - der letzten großen Region Syriens, die noch von Rebellen kontrolliert wird.
Mit dem Vorstoß nach Chan Schaichun drohten Rebellen im Süden der Stadt abgeschnitten und umzingelt zu werden. Daher hätten sie sich aus zahlreichen Orten der Gegend in Richtung Norden zurückgezogen und das Gebiet den Regierungstruppen überlassen, sagte Rami Abdel Rahman von der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte. Die von der Türkei unterstützte Nationale Befreiungsfront (NLF) bestätigte ihren Rückzug in einer Mitteilung. Die Sicherung der Nachschubrouten sei nicht mehr gewährleistet gewesen.
In der umkämpften Gegend befindet sich auch ein türkischer Beobachtungsposten. Die Türkei, Russland und der Iran vermitteln als sogenannte Garantiemächte in dem Konflikt zwischen der syrischen Führung und den Rebellen. Sie hatten sich auf eine sogenannte Deeskalationszone in der Provinz Idlib geeinigt, um die Zivilbevölkerung zu schützen.
"Das Regime sollte nicht mit dem Feuer spielen"
Die Region ist aber inzwischen heftig umkämpft. Der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu sagte am Dienstag während einer Pressekonferenz in Ankara, dass die Türkei nicht die Absicht habe, den Beobachtungsposten Nummer 9 zu evakuieren, der südlich von Chan Schaichun in Murk steht. "Wir haben nicht die Absicht, ihn woanders aufzustellen", sagte Cavusoglu. Am Vortag war ein türkischer Konvoi auf dem Weg zu diesem Posten aus der Luft angegriffen worden. Cavusoglu warnte: "Das Regime sollte nicht mit dem Feuer spielen."
Die Türkei unterhält in der Region insgesamt zwölf Beobachtungsposten. Der politische Analyst und Militärexperte Metin Gürcan twitterte, es seien lokalen Quellen zufolge Verhandlungen mit Moskau um den Posten Nummer 9 im Gange. Moskau wolle, dass der Posten verlegt werde. Dies bedeute jedoch den vollständigen Rückzug der Türkei aus dem Süden von Idlib.
Russlands Außenminister Sergej Lawrow bestätigte, dass in Idlib auch russische Soldaten im Einsatz sind. "Natürlich verfolgen wir nicht einfach nur die Lage, unsere Soldaten sind dort auf dem Boden", sagte er. Das russische Außenministerium habe am Dienstag festgestellt, dass die vom türkischen Militär eingerichteten Posten in Idlib kein Hindernis für Terroristen darstellten. Hoffnungen, dass Provokationen ausblieben, hätten sich nicht erfüllt. Die Terroristen versuchten, von dort aus in andere Gebiete Syriens vorzudringen.
Russland und die syrische Regierung bezeichnen die Rebellen in Idlib als Terroristen. Sie waren bislang immer von den Vereinbarungen über Waffenruhen ausgeschlossen. Die Region wird vor allem von einer Al-Kaida-nahen Miliz dominiert. In den vergangenen Jahren waren oftmals Aufständische aus anderen Regionen des Landes nach Idlib gebracht worden oder durften nach Vereinbarungen mit der Regierung aus belagerten Städten abziehen und nach Idlib gehen.
"Idlib ist angesichts der Zukunft Syriens ein kritisches Thema. (...) Insofern müssen wir hier eine Waffenruhe gewährleisten", sagte der türkische Außenminister Cavusoglu. "Weil das syrische Regime nicht an eine politische Lösung glaubt, strebt es nun eine militärische Lösung an." Seit April geht die syrische Regierung zusammen mit Russland als Verbündetem gegen die Rebellen in Idlib vor.
Humanitäre Katastrophe
Die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte sprach am Dienstag von rund 100 Luftangriffen und Hunderten Artillerieschlägen auf Ziele im Nordwesten Syriens. Tausende Menschen seien aus dem Süden der Provinz Idlib inzwischen in Richtung Norden geflohen, teilten Aktivisten mit. Vollbeladene Autos mit Kindern und Frauen aus anderen Gegenden wurden bei der Ankunft in der Provinzhauptstadt Idlib gesehen. Bereits im vergangenen Monat sprachen die Vereinten Nationen davon, dass die Militäroffensive seit April mehr als 400.000 Menschen in der Region zur Flucht getrieben habe.
Hilfsorganisationen sind nach eigenen Angaben angesichts der großen Zahl von Flüchtlingen überfordert. "Die Situation in der Provinz Idlib ist furchtbar und grausam" sagte der Direktor der Syrienhilfe von World Vision für die Region, Marc-Andre Hensel. Viele Menschen suchten auf ihrer Flucht Schutz auf Feldern. "Nach Berichten unserer Partner mussten einige Flüchtlinge bezahlen, wenn sie den Schatten von Bäumen nutzen wollten. Frauen gebären auf offenen Feldern, ohne jede Privatsphäre und adäquate medizinische Versorgung."
Syriens Präsident Baschar al-Assad verteidigte das Vorgehen der Armee, wie die staatliche Nachrichtenagentur Sana berichtete. Die syrische Armee werde weiterkämpfen, bis "jeder Zentimeter" des Landes befreit sei. Demnach warf Assad westlichen und regionalen Mächten - namentlich der Türkei - vor, Terroristen in Idlib zu unterstützen.